Die Sage von der Süntelbuche

In einer Zeit, die uns vom Dämmer des Anbeginns umsponnen ist, lag auf dem Dachtelfelde (Süntel) der Ur-Riese. Er war ein unendlich langer, urgewaltiger Kerl. Lang und schwer lag er auf dem Dachtelfelde, viele tausend Jahre, war da und sann aus den Dunkelheiten seines Wesens ins Helle. Was er sann - wer kann es wissen ! Die Wälder vergingen um ihn herum und wuchsen wieder neu. Von der eigenen Schwere sank der Gewaltige tief in den Erdboden ein. Immer müder wurde er und sank alle hundert Jahre einen halben Zentimeter tiefer ein. Er wusste, dass es sein Schicksal war, zu versinken, unterzugehen. Es war das Schicksal alles Lebendigen. Er fügte sich drein. Nach einem hatte er sich immer heimlich gesehnt, dass man in kommenden Zeiten von ihm wissen möchte, dass Wesen da wären, die sich der Urkraft jener Zeiten erinnern könnten, die um ihn dahingerauscht waren. Gab es denn solche Wesen, die sein Dasein in sich aufzunehmen und zu bewahren vermochten? Die Tiere konnten es nicht. Sie waren nur Regung der Urnatur, die ihn umgab. So löschte sein Leben bis auf das letzte Glimmen seiner Augen langsam aus und wurde der stummen Erde immer vertrauter, die um ihn war.
Eines Tages erklang in den stillen Wäldern etwas, das dort nie gehört worden war. Es war der Klang von Äxten. Da erwachte er noch einmal und er sah lebendige Wesen, die nicht Tiere waren. Aufrecht gehende Zweibeiner waren es, ganz hell, mit Augen wie Quellgeblink und sonnigen Haaren. Und da wusste der Riese: Diese waren es, die sein Urwesen begreifen mussten, die fähig sein würden, von ihm zu zeugen. Dem Riesen fielen die Augen zu und taten sich nicht wieder auf. In sein vergehendes Herz war ein Bucheckerlein gesunken. Diesem Sämlein gab der Riese seine ganze Kraft, die Wildheit seines Lebens, die Vollkommenheit seines Wuchses und seine herrliche Einsamkeit. Aus dem Sämlein wurde die erste Süntelbuche.
Bernhard Flemes, Hameln 1934